Mentalitätswandel im Prozess der Zivilisation

über das Gedankengebäude von Norbert Elias

Fulda, 17.03.2017 (Enrico Troebst). Seit dem Januar 2016 absolvieren die Studierenden des Elias-Kurses ihre berufsbegleitende Ausbildung zur Heilerziehungspflege an der Campus-Fachschule. Namenspatron ist der Soziologe Norbert Elias, der seine interdisziplinäre Forschertätigkeit als Beitrag zu einer „Menschenwissenschaft“ verstanden wissen wollte. Enrico Troebst, Dozent für Soziologie am Campus, skizziert nachfolgend das Hauptwerk des Gelehrten.

Mit dem Begriff „Internalisation“ bezeichnet die Soziologie den Prozess, in dem das Individuum die Werte und Normen seines gesellschaftlichen Umfeldes verinnerlicht. Dabei wird nicht nur kognitiv gelernt, was als richtig oder falsch, gut oder böse usw. gilt, sondern auch emotional. Bereits in der primären Sozialisation lernen wir, unsere körperlichen und seelischen Affekte zu zügeln: Aggressionen beherrschen, begehrliche Gefühle zurückhalten, unsere Körperausscheidungen zu kontrollieren. Wenn wir dann bei uns selbst oder bei anderen auf eine Normverletzung aufmerksam (gemacht) werden, empfinden wir Scham für das eigene Fehlverhalten oder Peinlichkeit gegenüber dem Fehlverhalten von anderen.

Die gesellschaftlichen Anforderungen an die Affektkontrolle sind nicht zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften gleich. Norbert Elias (1897 – 1990) zeichnet in seinem Hauptwerk „Der Prozess der Zivilisation“ (1939, als Taschenbuch 1976) zunächst anhand von Tischsitten nach, wie sich über Jahrhunderte das Scham- und Peinlichkeitsempfinden der Menschen in der westeuropäischen Adelsschicht veränderte. Was in mittelalterlichen Manierenbüchern zuerst noch angemahnt wurde, war zu einem späteren Zeitpunkt bereits selbstverständlicher Verhaltensstandard; was einst als gutes Benehmen galt, das wurde anschließend immer weiter verfeinert und näherte sich mit der Zeit unseren heutigen Vorstellungen von „zivilisierten“ Sitten an. Über einen langen geschichtlichen Zeitraum hinweg werden immer neue gesellschaftlich bedingte Fremdzwänge als Selbstzwänge verinnerlicht.

Elias beschreibt den zeitlichen Bogen vom wüsten Trinkgelage auf der mitteralterlichen Ritterburg bis hin zum Hofzeremoniell Ludwigs des Vierzehnten. Und weil einflussreiche Gesellschaftsgruppen im Kontakt mit weniger einflussreichen ein Verhaltensvorbild abgeben, orientieren sich zunehmend auch die bürgerlichen Menschen an den „höflichen“ Umgangsformen des Adels.

Die gleichbleibende Entwicklungsrichtung dieser Veränderungen benennt Elias als „Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsgrenzen“ im gesellschaftlichen Miteinander: das eigene Affektverhalten und das der anderen wird zunehmend angstbesetzt. Über die Tischmanieren hinaus betrifft dies auch die Sexualität, die Aggressionsbereitschaft und den Umgang mit körperlichen Ausscheidungen. Die speziellen Ausprägungen unserer heutigen Empfindungen in dieser Hinsicht sind das Ergebnis eines langen geschichtlichen Prozesses über Generationen hinweg.

Norbert Elias deutet diese Mentalitätsveränderung in einem Zusammenhang damit, wie sich die Machtbalancen zwischen den Menschengruppen in der abendländischen Gesellschaft verändert haben. Im Mittelalter führen Konkurrenzkämpfe zwischen kriegerischen Adelssippen mit der Zeit dazu, dass einige Herrscher immer größere Territorien unter ihre Kontrolle bringen. Wenn diese ihre Herrschaftsgebiete nicht mehr erweitern können, wird zunehmend Bündnispolitik zur Machtsicherung eingesetzt. Es ergeben sich Notwendigkeiten zu Verhandlungen und Diplomatie. Die Konkurrenzen werden jetzt nicht mehr (nur) mit Waffengewalt ausgetragen. Aggressionsgeminderte Machtstrategien werden zusehends erfolgreicher – auch deshalb, weil der König als Lehnsherr seine Machtbefugnisse immer weiter ausdehnen kann. Und irgendwann wurde schließlich der Königshof zum zentralen Ort, an dem Konkurrenzen ausgetragen und entschieden wurden. Aus den Rittern mit Schwert und Helm sind im Laufe der abendländischen Geschichte Höflinge mit Fächer und a la longue-Perücke geworden.

Die Machtkämpfe des Adels untereinander sowie des Adels mit dem König führen dazu, dass immer größere Territorien unter eine Zentralgewalt geraten. Der Landesherr besitzt das Gewaltmonopol und kann seine Herrschaftsgebiete im Inneren befrieden. Die Menschen dort sind zusehends nicht mehr der Willkür ihrer Nachbarn ausgesetzt. Sie können Pläne machen und unter der Gesetzlichkeit der Landesherrschaft darauf vertrauen, dass Verträge eingehalten werden und die Ernte im nächsten Jahr nicht einem Raubzug zum Opfer fällt.

Diese Planungssicherheit ermöglicht es den Menschen, über längere Zeiträume und größere Gebiete hinweg miteinander zu kooperieren. Die „Handlungsketten“ werden länger, wie Elias sagt. Handel und großräumige Arbeitsteilung werden möglich – zuerst zwischen Stadt und Land, und später auch industriell und im internationalen Maßstab. Bei dieser Entwicklung verlassen sich die Menschen zusehends aufeinander und begeben sich in ein wachsendes Geflecht gegenseitiger Abhängigkeiten, die Elias „Interdependenzketten“ nennt. Diese Verflechtungen miteinander gestalten zu können macht das aus, was wir „Zivilisation“ nennen.

Norbert Elias untersucht und beschreibt somit zwei langfristige Tendenzen: den psychogenetischem (individuellen, emotionalen) und den soziogenetischen (gesamtgesellschaftlichen, machtpolitischen) Prozess der abendländischen Zivilisation. Beide Entwicklungen bedingen einander, schaukeln sich gegenseitig auf. Dieser Entwicklungsweg war sehr voraussetzungsvoll. Naturräumliche Gegebenheiten, Bevölkerungswachstum, technische Entdeckungen, religiöse Überzeugungen und einiges mehr bilden den Rahmen, in dem der abendländische Mensch sein zivilisatorisches Modell entwickelt hat. Und so hätte die Entwicklung auch ganz andere Wege nehmen können. Was sich im Nachhinein als eine langfristige Tendenz erweist, war keinesfalls vorherbestimmt.

Elias hat in seinem Modell Erkenntnisse der Psychologie, Soziologie und Geschichtswissenschaft in beeindruckender Weise zusammen geführt. Was den Aspekt der Nicht-Zwangsläufigkeit angeht, so hat er sich von Einsichten der Evolutionsbiologie leiten lassen. Zu seinen Vermächtnissen gehören sein „prozesssoziologischer“ Ansatz (soziale Verhältnisse sollten immer als in einer Entwicklung befindlich untersucht und beschrieben werden) sowie der Begriff der „sozialen Figuration“ (Menschen und Menschengruppen können in ihrem sozialen Verhalten nur dann adäquat untersucht und beschrieben werden, wenn sie in ihrem gegenseitigen Aufeinander-angewiesen-S ein, in ihren Interdependenzen zueinander, erfasst werden).

Enrico Troebst

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Enrico Troebst
Diplom-Soziologe

Aufgewachsen in Hamburg, jetzt heimisch in Fulda. Dort als Coach, Moderator und Berater in einer Praxis tätig. Seit 2006 Dozent für Soziologie am Campus am Park.
Verheiratet, Vater eines Schulkindes