Heilerziehungspflege-Auszubildende beraten Gedenkstätte

Videoschalte zwischen Stockhausen und Hadamar zu inklusiven Bildungsangeboten

Eigentlich wollten die 19 Fachschüler*innen, die sich in der Ausbildung zur Begleitung von Menschen mit Behinderung befinden, von der Fachschule in Stockhausen im September gemeinsam zur Gedenkstätte Hadamar fahren, um sich dort bei einem Studientag mit den grausigen Vorgängen der Jahre 1941 bis 1945 zu befassen. „Wie war es überhaupt möglich, dass Ärzte und Pfleger/innen ihre Patient/innen töten?“, drängt sich als empörte Frage auf angesichts von über 14.000 Ermordeten allein in der Pflegeanstalt Hadamar während der von der „Kanzlei des Führers“ aus gesteuerten „Aktion T4“ und der dezentralen „Aktion Brandt“.
Die Gedenkstätte bietet Studientage an. Im Anschluss an eine Führung kann man sich dort genaue Einblicke in die Organisation des Mordprogramms verschaffen. Es können Berichte, Aussagen und Lebensläufe von Patienten sowie der verantwortlichen Ärzte und des Pflegepersonals erkundet werden, und es wird über die juristische Aufarbeitung des Mordprogramms informiert.
Allerdings steht dieses Angebot pandemiebedingt derzeit nur eingeschränkt zur Verfügung, und so wurde von Campus am Park-Dozent Enrico Troebst überlegt, wie man das Thema in Stockhausen bearbeiten kann. Hilfreich dafür war eine sehr informative Videoführung auf dem YouTube-Kanal der Gedenkstätte, mit der man sich in Hadamar bereits auf jene Interessierten eingestellt hat, die einen vor Ort-Termin derzeit nicht wahrnehmen können.
Bei der Kontaktaufnahme mit der Gedenkstätte zeigte sich, dass man dort das Angebot an inklusiven Führungen ausweiten und Menschen mit unterschiedlichen Handicaps verstärkt für das eigene Informations- und Bildungsangebot gewinnen will. Ob sie vielleicht an einer Expertise vom Stockhäuser Campus interessiert sei, fragte Enrico Troebst, Dozent für Soziologie am Campus, die pädagogische Gedenkstätten-Leiterin Judith Sucher. Denn die Studierenden der Heilerziehungspflege begleiten an ihren Praxisorten in Wohneinrichtungen sowie Werkstätten täglich Menschen mit Handicap und können somit etwas zu den Bedürfnissen und Interessen ihrer Klient/innen mitteilen.

So kam es vereinbarungsgemäß am 10. September zu einem Videomeeting zwischen Stockhausen und Hadamar, bei dem die Auszubildenden Elena Lesch, Leonie Pleß und Marianne Wahl berichteten, was sie mit ihren Studienkolleg/innen erarbeitet hatten. Am anderen Ende der Leitung waren Frau Sucher und Herr Olaf Neumann, der als Guide bereits inklusive Gruppen durch das Haus und über das Gelände in Hadamar führt.
Im Zentrum der Ausführungen standen die Selbstbestimmung der Klienten und die Fürsorgepflicht der Begleiter/innen: Ein Besuch in der Gedenkstätte komme überhaupt nur in Frage, wenn es tatsächlich ein deutlich ausgedrücktes Interesse gibt. Die begleitenden Heilerziehungspflegerinnen müssen sich dabei vergewissern können, dass es zu keiner emotionalen Überforderung kommt. In dieser Verantwortung muss auch überlegt werden, wie der Gedenkstättenbesuch nachwirken kann – etwa wenn anschließend in der Wohneinrichtung davon erzählt wird und Mitbewohner sich ängstigen. Tatsächlich konnten die Campus-Studierenden sich nur mit einer Minderheit der von ihnen betreuten Menschen einen Gedenkstättenbesuch in Hadamar vorstellen.
Frau Sucher ging an dieser Stelle auf das pädagogische „Überwältigungsverbot“ als einem Prinzip der politischen Bildungsarbeit ein: Teilnehmer müssen jederzeit in der Lage sein, argumentativ und emotional zu einem eigenen Standpunkt zu finden. Insofern würden sich die Ansprüche der Gedenkstättenpädagogik mit der Verantwortung der Begleiter von Besuchergruppen decken.
Die angehenden Heilerziehungspflegerinnen vom Campus, die sich im zweiten Jahr ihrer dreijährigen praxisintegrierten Ausbildung befinden, schlugen Einzelführungen für besonders reizempfindliche Besucher vor, auf deren Bedürfnisse dann besser eingegangen werden könne. Welche Einzelheiten über die Untaten in Hadamar sollen genauer erzählt werden, wann ist eine Pause angebracht, sollen die Erläuterungen in „einfacher Sprache“ gegeben werden? So könne eine Führung mit Aufmerksamkeit für den Besucher gestaltet werden, ohne ihn zu überfordern.
Schließlich wurden noch Vorschläge für eine mediale Aufbereitung der Informationen über das nationalsozialistische Mordprogramm gemacht. Filmaufnahmen aus der Gedenkstätte mit geeigneten Erläuterungen und Spielszenen in Trickfilmtechnik ermöglichten eine gewisse emotionale Distanz, womit die Informationen besser zu verarbeiten seien.
Zwei Unterrichtstage lang hat der Ibrahim Abouleish-Kurs sich mit den historischen Ereignissen beschäftigt, Quellenstudien betrieben und schließlich darüber diskutiert, welchen der von ihnen betreuten Menschen sie unter bestimmten Bedingungen Informationen zu dem schrecklichen Geschehen anbieten würden. Viel Energie ist in diese Auseinandersetzungen eingegangen, was sich nach Auffassung aller Beteiligten für neue Einsichten gelohnt hat: für Kursgruppe, Dozent und auch die Gesprächspartner in Hadamar, die den Studierenden ihren Respekt ausdrückten.

Zur Person
Seit 2010 ist der Diplom-Soziologe Enrico Troebst der Campus-Berufsfachschule als Dozent verbunden. „Campus Mitgründer Dieter Bosselmann hatte mich damals angesprochen, ob ich mir vorstellen kann, nach seinem altersbedingten Ausscheiden einen Teil seiner Unterrichtsverpflichtungen zu übernehmen. Wir hatten uns auf einer Tagung in Fulda kennengelernt. Er empfahl mich den Schulleitern Pierre Haas und Frank Ilge für ein Vorstellungsgespräch, bei dem sich sofort zeigte, dass wir viele Vorstellungen von einer anspruchsvollen Ausbildung gemeinsam teilen.“
Neben der Soziologie gehören Kommunikation, Biografiearbeit und das Supervisionsformat Kollegiale Beratung zu den Unterrichtsfächern von Enrico Troebst, der nach zehn Jahren in Fulda 2017 mit seiner Familie nach Berlin zurückging. „Beim Wohnort gibt meine Frau den Takt vor. Schon drei Mal sind wir dorthin umgezogen, wo eine neue berufliche Herausforderungen auf sie wartete. Somit komme ich jetzt wochenweise nach Stockhausen und kann mich dort ganz auf das Campusleben konzentrieren. Und ich genieße hier in den Pausen und nach Unterichtsschluss das ganze Umfeld: Mittagessen bei Schmidts, Einkäufe im Lädchen, Spaziergänge im Schlosspark und meine Joggingstrecken zwischen Wald und Wiese um Stockhausen herum. Auf der Rückreise mache ich gern einen Bummel durch Lauterbach.“