Von Klaus-Henning Janke
Gesundheit und Krankheit grundlegend verstehen
Zu den Unterrichtsinhalten der Ausbildung bei Campus am Park gehören auch medizinische Fragen. Dr. med. Klaus-Henning Janke beschreibt, welche Besonderheiten sich aus dem „anthroposophischen Blick“ auf Gesundheit und Krankheit, aber auch auf Themen der Anatomie und Physiologie ergeben.
Als ich vor sieben Jahren einen Teil des Unterrichtes im medizinischen Fachgebiet übernahm, stellte sich sogleich eine Reihe von grundsätzlichen Fragen:
- Wozu benötigt der Heilerziehungspfleger, die Heilerziehungspflegerin medizinische Kenntnisse, und welche besondere Ausrichtung liegen diesen in einer anthroposophisch orientierten Ausbildung zugrunde?
- Wie komme ich zu einer sinnvollen Gliederung eines schier unübersehbaren Fachgebietes, wie gelingt es, leitende Gesichtspunkte heraus zu arbeiten, die dem Stoff eine Struktur geben und vor einem Verlieren in Einzelheiten schützen?
- Wie sieht erwachsenengemäßer Unterricht in einem Fach aus, in dem es in Anbetracht der zur Verfügung stehenden Zeit im Wesentlichen auf Faktenvermittlung ankommt?
In der Ausbildung wollen wir Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln, die das Erkennen und die Begleitung akuter Krankheiten einschließlich eventuell auftretender Komplikationen ermöglichen. Darüber hinaus soll ein Bild des Menschen entworfen werden, das das Verhältnis des Geistig-Seelischen zum Leib beschreibt und verständlich macht. Hieraus folgt eine Anschauung von Gesundheit, Krankheit und auch Behinderung als konstituierende Kräfte im Menschen, die für den Einzelnen sowohl persönlich als auch im beruflichen Kontext im Alltag Bedeutung haben. In der konkreten Unterrichtsgestaltung versuchen wir, naturwissenschaftliche Fakten und anthroposophisch-menschenkundliche Gesichtspunkte so zu verbinden, dass sie sich gegenseitig ergänzen und befruchten. Im Folgenden will ich dafür einige Beispiele geben.
Prozesse und Kräfte im Fokus
Die Tatsachen und Kenntnisse, die in Anatomie und in der Physiologie vermittelt werden, unterscheiden sich dem Stoff nach nicht, ob wir sie aus naturwissenschaftliche oder auf anthroposophischer Grundlage darstellen. Ein wesentlicher Unterschied ergibt sich jedoch, wenn wir neben der faktischen auch die prozessuale Ebene in die Betrachtung mit einbeziehen. Hier sind die Dreigliederung des menschlichen Organismus und die Kräftewirksamkeiten der vier Wesensglieder wesentliche Hilfen, die große Stofffülle zu gliedern und ein Bild des Menschen zu zeichnen, bei dem der Leib mit seinen Strukturen das Ergebnis von Kräftewirksamkeiten ist.
Formkräfte, die ihr Zentrum im Nervensystem haben, Bewusstsein ermöglichen, jedoch wenig Regenerationskraft haben und prozessuale Verwandlungskräfte, die im Stoffwechsel und Blut ihr Zentrum haben und Willensaktivitäten ermöglichen, stehen sich polar gegenüber. Zwischen diesen Polen vermitteln rhythmische Prozesse, die im ganzen Menschen wirksam, urbildlich jedoch im Atem- und Herzrhythmus anschaubar sind. Sie bilden die Grundlage für den Gefühlsanteil des seelischen Erlebens. Damit wird der gesamte Leib ein „Instrument der Seele“ (Walter Bühler).
Diese Anschauung des gesunden Leibes erweist sich auch als eine Hilfe, grundlegende Krankheitsprozesse zu verstehen, bilden sie doch Vereinseitigungen der oben beschriebenen gesunden Prozesse, z. B. in der Polarität von verhärtenden, sklerotisierenden und entzündlichen Krankheiten. Erstere treten langsam schleichend und ohne eine innere Zeitstruktur auf, ins Bewusstsein treten sie erst, wenn sie sich als Endzustände manifestieren. Zu diesem Zeitpunkt ist eine eigentliche Heilung nicht mehr möglich, weshalb die Prophylaxe in Form von meist lebenshygienischen Maßnahmen so wichtig ist. Demgegenüber stellen die Entzündungskrankheiten, vor allem wenn sie fiebrig verlaufen, zeitlich geordnete Krankheitsprozesse dar, deren Ziel die Wiederherstellung der Integrität des Organismus ist. Sie zeigen eine gänzlich andere Dynamik, sind Ausdruck einer aktiven Auseinandersetzung des Organismus mit der Außenwelt und tragen zum Erhalt der Gesundung bei.
Die Verhärtung der Arterien, die Arteriosklerose ist ein Beispiel einer sklerotisierenden
Krankheitsrichtung. Sie entwickelt sich langsam und ohne dass der Betroffene etwas davon merkt, bis plötzlich ein Herzinfarkt oder Schlaganfall tiefgreifend das Leben verändert. Die bekannten
Risikofaktoren (Bluthochdruck, Rauchen, Stress, Diabetes, Übergewicht, Störungen des Fettstoffwechsels) sind Ausdruck unserer heutigen Lebensweise mit dem Überwiegen abbauender Bewußtseinsprozesse einerseits und einem überlasteten Stoffwechsel andererseits. Hier gilt es entsprechende Änderungen in der Lebensführung frühzeitig einzuleiten, um den Skleroseprozess gar nicht erst entstehen zu lassen. Dies ist so schwer, da es ein hohes Maß der Selbstführung verlangt.
Gesundheit als labiles Gleichgewicht
Auf dem Gebiet der Krankheiten besteht im Hinblick auf die Symptome kein Unterschied ob man sie aus naturwissenschaftlicher oder anthroposophischer Perspektive schildert. Wesentliche Unterschiede bestehen jedoch in der Bewertung und damit auch im Umgang mit den einzelnen Krankheiten. Die größten Differenzen zwischen beiden Aspekten gibt es sicherlich in der Beurteilung von Gesundheit, Krankheit und Heilung im Allgemeinen. Geht die naturwissenschaftliche Sichtweise von einem gesunden Zustand aus, der durch Krankheit jeweils gestört und unterbrochen wird und insofern verhindert werden muss, bildet Gesundheit unter anthroposophischen Gesichtspunkten ein labiles Gleichgewicht polarer Kräfte, das in jedem Moment neu errungen werden muss. Krankheiten stellen Versuche dar, das verlorene Gleichgewicht wieder herzustellen, sie leisten also grundsätzlich einen positiven Beitrag zur Entwicklung.
Die heutige gesundheitlich Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass der Entzündungspol der Krankheiten unterdrückt wird (Impfungen) oder gut zu behandeln ist. Auf der anderen Seite nehmen chronische abbauende Krankheiten immer mehr zu beziehungsweise treten in immer früheren Lebensaltern auf. Damit sind vielfältige Fragen grundsätzlicher Art verbunden, die zu erörtern hier zu weit führt.
Methodisch sind die hier angedeuteten Gesichtspunkte eine Hilfe, die Fülle des Stoffes zu strukturieren und zu ordnen und deutlich zu machen, dass das Wirken des Geistig-Seelischen das Primäre ist und die äußerlich sichtbaren und beschreibbaren Tatsachen ein Ergebnis dieser Wirksamkeit sind. In diesem Sinne ist der Unterricht dann erfolgreich, wenn es gelingt, ein Verständnis und einen anfänglich eigenständigen Umgang mit den anthroposophischen Grundlagen im Hinblick auf den Aufbau und die Funktion des Leibes mit seinen Erkrankungsmöglichkeiten zu veranlagen. Unabdingbar hierfür ist eine gute Zusammenarbeit mit den anderen Fächern, insbesondere den menschenkundlichen Grundlagenfächern und der Psychologie.In der praktischen Gestaltung des Unterrichtes muss immer wieder ein Gleichgewicht zwischen der reinen Faktenvermittlung und der Auseinandersetzung mit dem eigenen Bild vom Wesen des Menschen gesucht werden. Letzteres ist für die berufliche Perspektive sicherlich mindestens ebenso relevant wie das Faktenwissen.
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Dr. med. Klaus-Henning Janke
Arzt für Allgemeinmedizin
Seit 26 Jahren in der Lebensgemeinschaft Bingenheim in eigener Kassenpraxis niedergelassen; seitdem Unterrichtstätigkeit in der dortigen Ausbildung. Dozent in den Fächern Anatomie, Physiologie und Pathologie am Campus am Park seit 2008.
Verheiratet, 5 erwachsene Kinder